Die Gewinner dieses Abstimmungssonntags sind vorbereitet: Sie posieren für die ersten Hochrechnungen und reissen für die Kameras die Arme hoch. 58,2 Prozent der Bevölkerung stimmen der Gewerkschaftsinitiative für eine 13. AHV-Rente zu. Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard verteilt grosszügig Küsschen an seine Mitstreiterinnen. Er verdrückt auch eine Träne. Der aufreibende Kampf ist zu Ende, der Sieg eingefahren. Die Erleichterung ist im Saal spürbar, die Freude gross.
Die Prognosen deuteten stets auf ein Ja. Gewissheit, dass es für ein Ja reicht, habe er aber nie gehabt, sagte Maillard. «An manchen Tagen war ich optimistisch, am nächsten Tag kehrte es wieder.» Es waren mehr anekdotische Erlebnisse, die ihm Hoffnung gaben. Die Sicherheit kam mit den ersten Resultaten aus dem Aargau am Sonntagmorgen. Oberkulm sagt mit 59,47 Prozent Ja, Mönthal mit 60,0 Prozent und Zeihen mit 56,52 Prozent.
Die Zustimmung zur 13. AHV-Rente war in diesen SVP-Hochburgen über 20 Prozentpunkte höher als noch bei der ähnlich gelagerten Abstimmung über die Initiative AHVplus, die eine Erhöhung der AHV-Renten um 10 Prozent vorsah. 2016 lehnte das Stimmvolk mit 59 Prozent Nein-Stimmen das Begehren klar ab.
Das klare Volksverdikt ist eine empfindliche Niederlage für das bürgerliche Parlament und den Bundesrat. Daran gibt es auch für Sozialministerin Elisabeth Baume-Schneider nichts zu rütteln: «Das heutige Abstimmungsergebnis ist ein starkes Signal, dass sich die Bevölkerung eine leistungsfähige AHV wünscht und eine starke soziale Absicherung im Alter.» Baume-Schneider versprach eine rasche Umsetzung. In den nächsten Wochen werde sie dem Bundesrat eine Diskussionsgrundlage unterbreiten.
Wie konnte es also zu diesem historischen Erfolg der Gewerkschaften kommen?
Kaufkraft, Kaufkraft, Kaufkraft: Wie ein Mantra wiederholte die SP das Wort 2023 im Wahlkampf. Der Gewerkschaftsbund rief zur Kaufkraft-Demo auf, um sich gegen den «Lohn- und Rentenklau» zu wehren. Der argumentative Boden für die 13. AHV-Rente war damit gelegt.
Und das Timing hätte aus Sicht der Befürworterinnen und Befürworter nicht besser sein können. Teuerung, steigende Mieten, höhere Krankenkassenprämien: Als der Gewerkschaftsbund die Lancierung der Initiative 2018 beschloss, war das alles noch nicht absehbar. Für die Initianten eine glückliche Fügung.
Doch die prekäre finanzielle Situation der Senioren greift als Erklärung zu kurz. In der Bevölkerung herrscht ein spürbarer Unmut darüber, wie der Staat Geld ausgibt, zumal in den letzten vier Jahren nicht mehr über Millionen sondern nur noch über Milliardenbeträge verhandelt wurde. Die CS sollte 259 Milliarden Franken an Bürgschaften erhalten, die Armee soll auf jährlich 10 Milliarden Franken ausgebaut werden, die Coronahilfen überstiegen die 33-Milliarden-Marke und selbst für Flüchtlinge geben wir jährlich mehrere Milliarden aus.
Vor diesem Hintergrund scheinen vier bis fünf Milliarden pro Jahr für die AHV plötzlich vernünftig – und vor allem möglich. SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer deutet das Volks-Ja so:
Den Gewerkschaften halfen auch die beiden Finanzspritzen, welche die AHV in den letzten fünf Jahren erhalten hat. Nur dank ihnen schreibt das Vorsorgewerk aktuell schwarze Zahlen.
Für Mitte, FDP und SVP schien der Fall derweil klar: Die 13. AHV-Rente ist ein klassischer Fall verschwenderischer Geldverteilung nach dem verpönten Giesskannenprinzip. So erstaunt es rückblickend nicht, dass sich die Mehrheit im Parlament nicht auf einen Gegenvorschlag einigen konnte. Einzig die GLP hatte sich für eine Alternative stark gemacht, blieb damit aber auf verlorenem Posten.
Die Gegner des AHV-Ausbaus erwachten erst spät, als ihnen letzten Herbst langsam dämmerte, dass die Initiative gute Chancen bei der Bevölkerung hat. Eine Umfrage im Auftrag der Gewerkschaften ergab eine hohe Zustimmung von 71 Prozent. Darauf legte die Politik den Schalter um. In der Wintersession im Dezember hiess der Nationalrat darauf eine Motion von GLP-Nationalrätin Melanie Mettler gut, der sich heute wie ein verkappter Gegenvorschlag liest.
Die grosse Kammer anerkannte, dass bei tiefen Renteneinkommen Handlungsbedarf besteht. Bei den Initianten kam der plötzliche Aktivismus nicht gut an. Sie witterten eine billige Ablenkungstaktik der Bürgerlichen im Abstimmungskampf.
Kritik gefallen lassen muss sich auch der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, der operativ den Lead innehatte. Ihm wird vorgeworfen, die Kampagne zu spät gestartet und diese zu wenig sichtbar gemacht zu haben. Auch der eindringliche Appell von fünf alt Bundesräten erwies sich als Bumerang.
Unglücklich war wohl, dass bei den bürgerlichen Parteien die Fäden bei der SVP zusammenliefen, an deren Basis viel Sympathie für die Initiative bestand. Allerdings liessen die bürgerlichen Partner die SVP auch im Stich. So verhielten sich Mitte-Präsident Gerhard Pfister und FDP-Präsident Thierry Burkart während des Abstimmungskampfes auffällig ruhig.
Das klare Ja ist indes kein Zufallserfolg. Die Gewerkschaften verfolgen die Idee einer höheren Rente schon seit Jahrzehnten. Ob Paul Rechsteiner den Champagner für diesen Abstimmungssieg schon 2002 oder 2010 kühl gestellt hat? Vor mehr als 20 Jahren forderte der Gewerkschaftsbund eine 13. AHV-Rente. Doch dann übernahm FDP-Bundesrat Pascal Couchepin das Innendepartement von Ruth Dreifuss (SP), und die Linken waren damit beschäftigt, den Sozialabbau zu verhindern. Erfolgreich, wie Rechsteiner heute anmerkt. Aber ein Ausbau lag nicht drin.
2010 schrieb Rechsteiner in einer Rede (die er aus Zeitgründen nie gehalten hat) über die «Agenda für den Neustart in der Rentenpolitik». Der SGB stellte damals die Weichen neu: Er gab das Ziel der Frühpensionierungen auf, setzte stattdessen auf die Karte höhere AHV-Renten. Zeithorizont: 10 bis 15 Jahre. Mit der AHVplus-Initiative scheiterten sie deutlich, doch angesichts sinkender Pensionskassenrenten gleisten Rechsteiner und Chefökonom Daniel Lampart die Initiative für eine 13. AHV-Rente auch gegen interne Zweifler auf.
14 Jahre später gelingt den Gewerkschaften der grosse Triumph tatsächlich. Und Rechsteiner mischt sich an diesem Abstimmungssonntag unter die Sieger in Bern, wird von seinem Nachfolger Pierre-Yves Maillard als «le vrai père», den wahren Vater, der Initiative gefeiert. «Ein historischer Tag», sagt Rechsteiner. Zum ersten Mal überhaupt wird ein Ausbau der Sozialversicherungen per Volksinitiative beschlossen.
Ein Blick zurück zeigt: Nach Einführung der AHV wurden die Renten bis Ende 70er Jahre mehrmals erhöht, zum Teil kräftig. Bei der 8. AHV-Revision wurde die Minimalrente innert weniger Jahre mehr als verdoppelt. Berücksichtigt man die Teuerung, waren die finanziellen Folgen damals deutlich höher. Einmalig ist die Rentenerhöhung also nicht, aber: Die 13. AHV-Rente ist der grösste Ausbau seit einem halben Jahrhundert.
Auf dem Weg zu diesem Coup musste Rechsteiner auch Niederlagen hinnehmen. Da war das Nein zu AHVplus. Aber auch die riesige Reform «Altersvorsorge 2020», die er mit drei anderen Ständeräten ausarbeitete, scheiterte knapp. Damit fiel auch der von Rechsteiner eingefädelte AHV-Zuschlag von 70 Franken durch. Der Politstratege musste einen neuen Plan entwerfen.
Der Erfolg der 13. AHV-Rente ist einer konsequenten gewerkschaftlichen Agenda entsprungen. Er ist aber dennoch aussergewöhnlich, weil Initiativen höchst selten angenommen werden. Aus dem linken Lager kamen bislang umweltschützerische Initiativen durch, die Alpen-Initiative etwa, oder nicht spezifisch linke Anliegen wie jüngst die Pflege-Initiative.
Polit-Auguren reden bereits von einer Zeitenwende: «Die Gewerkschaften können die Politik nun auch über die Verfassung steuern», sagt Politologe Lukas Golder im SRF. Tatsächlich erhoffen sich die Linken vom klaren Ja nun Auftrieb für die Prämieninitiative, die im Juni zur Abstimmung kommt. Der argumentative Boden ist auch hier bereits gelegt: Die Kaufkraft sinkt nicht nur bei den Alten, sondern in der gesamten Bevölkerung. SP-Ständerätin Flavia Wasserfallen sagt: «Nach den Rentnerinnen und Rentner sind jetzt die Familien dran.» (bzbasel.ch)
Bei einem Nettolohn von 5'500 Franken gibt's dann eine Totalrente AHV und PK zusammen von 2'750 bis 3'300 Franken. Kann jeder selber rechnen wieviel die Rente bei ihm sein wird. Kommt ihr damit durch?